Über Angst, Gefangenschaft und Flucht ins „Hier & Jetzt“

Außergewöhnlich still ist es im großen Foyer der Wilhelm-Schickard-Schule als Jihan Alomar den etwa 120 Schülerinnen und Schülern aus ihrem Buch „Dankbarkeit – Die schlimmste Zeit meines Lebens“ vorliest und ihre Geschichte erzählt. Die neunzehnjährige Jesidin musste mit zehn Jahren vor den IS-Terroristen aus ihrer Heimat Nordirak fliehen und hat durch die brutalen tödlichen Gewaltakte des IS viele Familienmitglieder verloren.

Heute eröffnet sie an der WSS die Fotoausstellung „Hier & Jetzt“, die vom 18. – 21. April im Foyer der Schule zu sehen ist und Bilder und einen Film von geflüchteten Jesidinnen und Jesiden in Deutschland zeigt. Auf die Einladung der beiden Lehrerinnen Tamara Fielsch und Anna Igel findet sowohl die Lesung als auch die Ausstellung in der Schule Zuhörer und Betrachter. Beide Lehrerinnen setzen sich gegen Diskriminierung und Rassismus ein.

Jihan Alomar (rechts) und Zine Balletshofer bei der Lesung aus dem Buch „Dankbarkeit – Die schlimmste Zeit meines Lebens“

Zunächst spricht Herma Klar für den Verein Passerelle, der die Ausstellung zusammen mit Tübinger Jesid*innen entwickelt hat. Passerelle unterstützt Menschen mit Fluchterfahrung beim Übergang in eine neue Kultur. Die ehrenamtlich für den Verein arbeitende Klar erklärt, dass die Volksgruppe der Jesiden im Nordirak, Syrien und der Türkei als ethnische Minderheit in muslimischem Umfeld lebt. In der Geschichte der Jesiden habe es 74 Genozide (Völkermorde) gegeben, der letzte und schlimmste habe 2014 stattgefunden.

Jihan Alomar ist herzlich und freundlich, viele der Schülerinnen und Schüler im Publikum kennt sie, weil sie selbst Schülerin an der Nachbarschule ist. Dadurch sei sie nervöser als sonst. Die Neunzehnjährige strahlt Lebensfreude aus. Das ist um so erstaunlicher, wenn bei ihrer Lesung klar wird, welche furchtbaren Erlebnisse die junge Frau in ihrem Leben bereits ertragen hat. Als sie mit erstickter Stimme aus ihrem Buch vorliest, wie ihre Mutter ihr im Alter von neun Jahren eilig die Haare vom Kopf schneidet, um sie vor Verschleppung und Versklavung durch die IS-Terroristen zu schützen.

Im Publikum sitzen einige, die ebenfalls diese schlimmen Erfahrungen erlitten haben. Zekra Audi, ebenfalls neunzehnjährige Jesidin, bedankt sich sehr bewegt bei Jihan dafür, dass sie darüber spricht, darüber informiert und es öffentlich macht.

Andere Schülerinnen und Schüler stellen mitfühlend Fragen: „Wie geht es deiner Schwester jetzt?“, „Wie konnte sie aus der Gefangenschaft befreit werden?“, „Wie hat dein kleiner Bruder die Zeit erlebt?“

Mit Jihan Alomar ist Zine Balletshofer in der Schule. Sie hat mit der Neunzehnjährigen das Buch fertiggeschrieben, das ihr Sohn Marvin Balletshofer mit Jihan begonnen hatte, aber aufgrund eines tödlichen unverschuldeten Autounfalls nicht fertigstellen konnte. Zine Balletshofer appelliert an die Schülerinnen und Schüler: „Informiert euch, tragt es weiter. Es ist die Grundlage des Lebens, dass wir Bescheid wissen, was los ist in der Welt.“