„Man schreibt ja nicht, um zu sagen, was richtig ist, sondern um nachzudenken“

Gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Beruflichen Gymnasien hat Katharina Hacker bei einer Lesung und im anschließenden Gespräch öffentlich nachgedacht.

Vor etwa 40 Jahren sei sie schon einmal in Tübingen gewesen, erzählt die Schriftstellerin Katharina Hacker aus Berlin, und sei jetzt bei ihrem Besuch wieder erstaunt gewesen, „in wie unterschiedlichen Welten man auch in einem Land leben kann“. Das Nebeneinander unterschiedlicher Leben ist Thema ihres Romans „Die Habenichtse“ (2006), aus dem sie am 10. Oktober vor rund 200 Schülerinnen und Schülern der Beruflichen Gymnasien liest. Im Kernfach Deutsch ist der Roman eine der vier Pflichtlektüren. Neben den Schülerinnen und Schülern der drei Tübinger Beruflichen Schulen sitzen weitere Deutschkurse aus Reutlingen und Herrenberg in der Aula der Wilhelm-Schickard- und Mathilde-Weber-Schule in Derendingen.
Eine halbe Stunde liest Hacker aus ihrem mit dem Deutschen Buchpreis geehrten Roman vor und malt die Leben von Sara und Dave, von Isabelle und Jakob, Jim und Mae, mit ihrer Stimme in die Köpfe der Anwesenden. Sie sagt, sie finde beim Vorlesen das Buch „viel brutaler“, als sie es in Erinnerung habe. Gewalt spielt eine substantielle Rolle im Roman, meistens nicht spektakulär, sondern alltäglich, in Form von häuslicher Gewalt, Kindesmisshandlung, sexualisierter Gewalt und harter Körperverletzung. „Wie leben wir nebeneinander und interessieren uns nicht füreinander, blenden andere, neben uns Lebende geradezu aus?“ Katharina Hackers Frage wirkt ehrlich erstaunt, als wolle sie selbst erst das Phänomen begreifen. Sie habe erlebt, dass es sehr schwer sei, nach Gewalterfahrungen zu fragen, „so als würde man sich schämen“. Dieses Tabu sei darum ein Motor für Hacker gewesen, das Buch zu schreiben.
Die Aufmerksamkeit im Publikum ist gebannt und im Anschluss haben die Schülerinnen und Schüler Fragen: „Wie sind Sie auf den Titel gekommen? Wie arbeitet man an so einem Roman? Wie finden Sie, dass Ihr Buch jetzt für das Abitur verwendet wird?“ Es tue ihr einerseits leid, sagt Hacker augenzwinkernd, dass sie für die Schülerinnen und Schüler Stress verursache, aber: „Ich freue mich, dass Sie mein Buch lesen mussten.“ Nach der Hauptfigur Isabelle gefragt, warum diese emotional so entfernt wirke, gesteht die Autorin, dass diese Figur ihr schwer gefallen sei. „Ich kann besser, was mir nicht so nah liegt.“
Ein Schüler ist beeindruckt von Katharina Hackers Reflexion über die Terrorangriffe des 11. September in New York. Die Autorin stellt 9/11 neben Terrorangriffe, die zeitgleich in anderen Ländern stattfanden, wo sie an der Tagesordnung sind, wo sich Eltern verabreden, nicht im gleichen Bus zu fahren, damit im Falle eines Attentats ein Elternteil für die Kinder überlebt, und spricht von einer übermäßigen Aufwallung auf Seiten der westlichen Mächte. 

Eine Stunde lang folgt das Publikum in der großen Aula den Fragen aus den Reihen und den Antworten der Autorin. Im Applaus mit Zurufen am Schluss wird die Anerkennung deutlich.

„Wie ehrlich sie mit uns geredet hat, so offen und selbstkritisch“, spricht Nina Leukart (Wilhelm-Schickard-Schule) beeindruckt aus. Emma Kern (Gewerbliche Schule Tübingen) ist beeindruckt von Hackers „richtig cooler Persönlichkeit und ihrem selbstironischen Witz“.

Katharina Hacker liest vor rund 200 Abiturienten aus ihrem Roman „Die Habenichtse“